Auch die Großfläche kann Abstandsregeln einhalten
Die 800-Quadratmeter-Beschränkung wirft aber Fragen auf. „Es ist aus gesundheitlicher Sicht unklar, warum Großflächen hier schlechter gestellt werden“, kommentiert Marco Atzberger, Geschäftsleitung im EHI, „denn auch bzw. gerade Großflächen können Abstandsregeln umsetzen. Insofern ist die Entscheidung aus NRW zu begrüßen, ab kommenden Montag, 27. April 2020 auch Geschäften mit größerer Verkaufsfläche die Öffnung zu erlauben, wenn diese auf 800 Quadratmeter eingeschränkt wird. Der Schutz von Kunden und Verkaufspersonal bleibt die zentrale Aufgabe.“Lockerungsmaßnahmen nicht immer logisch
Das IFH Köln geht in seiner Einschätzung noch weiter: „Die neuen Regelungen rund um die Ladenöffnungen in der Coronakrise führen zu Wettbewerbsverzerrungen durch Ungleichbehandlung. Zudem schützen sie gar nicht die zu Schützenden, wie ursprünglich intendiert. Denn die großen, Frequenz sichernden Handelsunternehmen am Standort, die geschlossen bleiben sollen, sind die Basis für den Erfolg der kleineren Anbieter vor Ort.“Bund und Länder hatten sich darauf geeinigt, dass unter Einhaltung festgelegter Hygiene-Regeln innerstädtische Geschäfte mit einer Fläche bis 800 Quadratmetern wieder öffnen dürfen. In Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen, Hamburg, Schleswig-Holstein und im Saarland dürfen auch größere Filialen öffnen, wenn sie im Geschäft die erlaubten 800 Quadratmeter abgrenzen. In Schleswig-Holstein, Brandenburg und Niedersachsen dürfen zudem auch Geschäfte mit bis zu 800 Quadratmetern öffnen, die in Einkaufszentren liegen.
Das hinter der Strategie zur Lockerung liegende Motiv ist die Vermeidung eines zu großen Andrangs in den Innenstadtlagen und die Gefahr damit einhergehender stark ansteigender Infektionsketten. Mit den Regeln zur Lockerung des Shutdowns ergeben sich jedoch eine Reihe von Fragen:
1) Warum 800 Quadratmeter?
Offenbar diente als Orientierung für die Entscheidung, dass laut Baurecht Geschäfte mit mehr als 800 Quadratmetern als Sonderbauten gelten. Hier stellt sich die Frage, wo die direkte Verbindung zu Corona und den Ansteckungsrisiken besteht. Klar ist, dass besondere Hygiene-Regeln eingehalten werden müssen zum Schutz der Kund*innen und Mitarbeiter*innen. Dies gilt jedoch für Geschäfte jeder Größe. Wir haben für uns am IFH Köln einmal exemplarisch berechnet, welche Wirkung die Teilöffnung für den Textilhandel bedeutet. Demnach erhalten mit der neuen 800-Quadratmeter-Regel etwa zwei Drittel der Mitarbeiter*innen Zugang zu Ihrer Arbeit und damit zur Sicherung des Arbeitsplatzes. Für das Drittel an Mitarbeiter*innen, die in größeren Handelsunternehmen tätig sind, bedeutet die Lösung jedoch das Gegenteil. Es mag die Einschätzung vorgelegen haben, dass größere Unternehmen die Krise scheinbar besser meistern können.
2) Warum mal so und mal so?
Es stellt sich die Frage, woher die unterschiedlichen Beurteilungen herrühren. Vorstellbar ist, dass die verschiedenen Bundesländer aktuell unterschiedlich stark von Corona betroffen sind. Die föderale Struktur passt jedoch nicht zu einer Branche, die zeigt, dass vor allem bundesweite Skalierung möglichst große Filialnetze und wirtschaftliche Rentabilität garantieren. Entsprechend wichtig sind möglichst wenige Unterschiede bei Reglungen, um Implementierung möglichst effizient zu erwirken.
3) Wie sieht der langfristige Plan aus?
Neben der Heterogenität auf regionaler Ebene ist auch die Auswahl der Handelsbranchen und Sortimente für die ersten Lockerungen nicht nachvollziehbar. So können zum Beispiel Autohändler öffnen, Baby- und Kinderausstatter jedoch nicht. Da keine prozessbezogenen Aussagen oder Hintergründe getätigt wurden, stellt sich die Frage nach einem Langfristplan. Dieser ist elementar, um wirtschaftliche Planungssicherheit auf Ebene der Kostenstruktur für Unternehmen zu ermöglichen. Dabei geht es nicht zwangsweise um einen genauen Terminplan, der vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie natürlich sehr schwierig ist. Dennoch können klare Abfolgen und kommunizierte Prozessschritte helfen, betriebswirtschaftliche Einschätzungen und Hochrechnungen vorzunehmen.
Wettbewerbsverzerrung als Folge
Grundsätzlich sind mit den aufgesetzten Reglungen zur Lockerung Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten. Eine willkürliche Festsetzung von QM-Flächen zur Festlegung und Klassifizierung, welche Unternehmen öffnen können und welche nicht, ist vor dem Hintergrund Wettbewerbsgleichheit die falsche Lösung, um erwartete Besucheranstürme in der Innenstadt zu vermeiden.Es mag auch überlegt worden sein, dass große Handelsunternehmen die Krise leichter überstehen. Hier läge ein Trugschluss vor. Mit Blick auf die Kostenstruktur und notwendigen Mieten im Vergleich zu inhabergeführten Unternehmen, bei denen die Immobilie des Geschäfts sich oft im Eigentum des Händlers befindet und Familienmitglieder mitwirken, ist nicht klar, welches Handelsformat längeren Atem in puncto Überlebenssicherung hat. Die wirtschaftliche Vorleistung bei der Order ist in großen Unternehmen ungleich höher, so dass ungeachtet dessen, ob ein Handelsformat im Vorteil ist, automatisch eine Wettbewerbsverzerrung folgt.
Ironischerweise ergibt sich auch ein Effekt der negativen Verzerrung gegen intendiert geschützte inhabergeführte Unternehmen. Denn Letztere benötigen die Öffnung der großen Anbieter im Einzugsgebiet, um mit ausreichend Besuchsfrequenz auch ihr Geschäftsmodell in Zeiten steigenden Onlinehandels erfolgreich zu betreiben. Denn dieser ist in vielen Branchen – sowohl für kleinere, als auch für größere Anbieter – eine immer größer werdende Konkurrenz, insbesondere in Zeiten des „Social Distancing“. Das belegen auch die Daten des Corona Consumer Check, einer IFH-Studie zu dem Konsumverhalten in Zeiten von Corona. Während allerdings Mitte März die befragten Konsument*innen noch angaben, in erster Linie mehr haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel online zu bestellten, ergab die Befragung Mitte April eine deutliche Verschiebung in den Bereich Kleidung und Schuhe – also jene Branche, die besonders präsent in deutschen Innenstädten sind.